16. 11. 2024 Warten auf die Barbaren Worauf warten wir, versammelt auf dem Marktplatz? Auf die Barbaren, die heute kommen. Warum solche Untätigkeit im Senat? Warum sitzen die Senatoren da, ohne Gesetze zu machen? Weil die Barbaren heute kommen. Welche Gesetze sollten die Senatoren jetzt machen? Wenn die Barbaren kommen, werden diese Gesetze machen. Warum ist unser Kaiser so früh aufgestanden? Warum sitzt er mit der Krone am größten Tor der Stadt Hoch auf seinem Thron? Weil die Barbaren heute kommen Und der Kaiser wartet, um ihren Führer zu empfangen. Er will ihm sogar eine Urkunde Überreichen, worauf viele Titel Und Namen geschrieben sind. Warum tragen unsere zwei Konsuln und die Prätoren Heute ihre roten, bestickten Togen? Warum tragen sie Armbänder mit so vielen Amethysten Und Ringe mit funkelnden Smaragden? Warum tragen sie heute die wertvollen Amtsstäbe, Fein gemeißelt, mit Silber und Gold? Weil die Barbaren heute erscheinen, Und solche Dinge blenden die Barbaren. Warum kommen die besten Redner nicht, um wie üblich Ihre Reden zu halten? Weil die Barbaren heute erscheinen, Und vor solcher Beredtheit langweilen sie sich. Warum jetzt plötzlich diese Unruhe und Verwirrung? (Wie ernst diese Gesichter geworden sind.) Warum leeren Sich die Straßen und Plätze so schnell, und Warum gehen alle so nachdenklich nach Hause? Weil die Nacht gekommen ist und die Barbaren doch nicht Erschienen sind. Einige Leute sind von der Grenze gekommen Und haben berichtet, es gebe sie nicht mehr, die Barbaren. Und nun, was sollen wir ohne Barbaren tun? Diese Menschen waren immerhin eine Lösung. Konstantinos Kavafis 20. 10. 2024 Gänse Epstein mein Mathematiklehrer rief mich gern vor an die Tafel. Er sagte mein Kopf sei nur für Hüte gut. Ein Vogel mit einem Hirn wie meinem würde rückwärts fliegen. Ich sollte besser Gänse hüten. Jahre von diesem Satz entfernt sitz ich unter der Palme mit meinen drei schönen Gänsen und denke mir vielleicht besass er ja Weitblick mein Mathematiklehrer und hat Recht gehabt. Denn nichts bereitet mir mehr Freude als jetzt zu sehen wie sie sich auf das zerbröselte Brot stürzen fröhlich mit dem Schwanz wackeln unter den Wasserspritzern aus meinem Schlauch einen Moment erstarren den Kopf aufrichten dann streckt sich ihr Körper als erinnere er sich an ferne Seen. Inzwischen ist mein Mathematiklehrer gestorben gestorben sind auch seine Probleme die ich nicht zu lösen vermochte. Ich mag Hüte und immer abends wenn die Vögel in den Baum zurückkehren such ich den einen der rückwärts fliegt. Agi Mishol 20. 10. 2024 WIR WOLLTEN SEIN WIE DIE DINGE AUS TON Wir wollten sein wie die dinge aus ton Dasein für jene, die morgens um fünf ihren kaffee trinken in der küche Zu den einfachen tischen gehören Wir wollten sein wie die dinge aus ton, gemacht aus erde vom acker Auch, dass niemand mit uns töten kann Wir wollten sein wie die dinge aus ton Inmitten so viel rollenden stahls Reiner Kunze
18. 08. 2024 Böhmen liegt am Meer Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus. Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern. Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich. Grenzt hier ein Wort an mich, so lass ich's grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land. Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich. Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehen. Zugrund - das heisst zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiss ich jetzt, und ich bin unverloren. Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianter alle. Spielt die Komödien, die lachen machen. Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein und das andre Mal. Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags zum Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt. Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sein. Ingeborg Bachmann 02. 06. 2024 Die Verscheuchte Es ist der Tag in Nebel völlig eingehüllt, Entseelt begegnen alle Welten sich - Kaum hingezeichnet wie auf einem Schattenbild. Wie lange war kein Herz zu meinem mild ... Die Welt erkaltete, der Mensch verblich. - Komm, bete mit mir - Denn Gott tröstet mich. Wo weilt der Odem, der aus meinem Leben wich? - Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild Durch bleiche Zeiten träumend - ja, ich liebte dich. Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt -? - Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich - Und ich - vor deine Tür, ein Bündel Wegerich. Bald haben Tränen alle Himmel weggespült, An deren Kelchen Dichter ihren Durst gestillt, Auch du und ich. Und deine Lippe, die der meinen glich, Ist wie ein Pfeil nun blind auf mich gezielt -. Else Lasker-Schüler 06. 05. 2024
Mein blaues Klavier Ich hab zu Hause ein blaues Klavier Und kenn doch keine Note. Es steht im Dunkel der Kellertür, Seitdem die Welt verrohte. Es spielten Sternenhände vier - Die Mondfrau sang im Boote - Nun tanzen die Ratten im Geklirr. Zerbrochen ist die Klaviatür..... Ich beweine die blaue Tote. Ach liebe Engel öffnet mir - Ich ass vom bitteren Brote - Mir lebend schon die Himmelstür - Auch wider dem Verbote. Else Lasker-Schüler 20. 04. 2024 Wetterzeichen Stimmen, Regen, ein Vogel - flieg, Regenstimme, ein blauer Vogel, vom Donner der Berge schallend fliegt er, mein Herz steht in der Wolke. Land, die Ebenen, Ströme die Ufer voll Sand und Wälder im Dunst der Quellen - verflogen der Regen, mein Vogel ruft aus dem Wind. Kommt, so ruft er, mit grossen Schwingen atmend, wir fliegen lauter, umfliegen den Berg - Blitze, fahrt, Donner, mein Herz steht in der Wolke Johannes Bobrowski 14. 04. 2024 herr ich weigere mich das gebet als waffe einzusetzen ich wünsche es als einen fluss zwischen zwei ufern denn ich suche weder strafe noch gnade sondern eine neue haut die diese welt ertragen lässt SAID 08. 04. 2024 Ich hörte sagen, es sei im Wasser ein Stein und ein Kreis und über dem Wasser ein Wort, das den Kreis um den Stein legt. Ich sah meine Pappel hinabgehn zum Wasser, ich sah, wie ihr Arm hinuntergriff in die Tiefe, ich sah ihre Wurzeln gehn Himmel um Nacht flehn. Ich eilt ihr nicht nach, ich las nur vom Boden auf jene Krume, die deines Auges Gestalt hat und Adel, ich nahm dir die Kette der Sprüche vom Hals und säumte mit ihr den Tisch, wo die Krume nun lag. Und sah meine Pappel nicht mehr. Paul Celan
03. 03. 2024 Unauslöschlich trage ich mein Gestern in mir Wer ich einst war, bestimmt für immer mein Los Es ist, als hätten meine Gedanken und meine Worte Noch heute die Macht, mich zu erpressen Sie haben mich in ihrer Gewalt Da ich sie nicht mit einer Geste verscheuchen kann Louis Aragon 29. 02. 2024 Notizen in Kreide 2 Durchgangsstation für Gefühle, Gedanken, Geträum. Nach kurzem Aufenthalt aufs immer Neue leer und verödet der Bahnhof meines angstvollen meines heillosen Gebeins: Aufgewirbelt sinken zurück auf den versteinten Grund die Aschenflocken eins lebendig und verwandt demselben der täglich meine Haut zu Märkten trägt und nicht fragt nach dem Preis. Günter Kunert 26. 02. 2024 Unter Di Khurves Fun Poyln Unter di khurves fun poyln A kop mit blonde hor - Der kop un say der khurbn Beyde zenen vor. Doyle, mayne dolye. Iber di khurves fun poyln Falt un falt der shney, Der blonder kop fun mayn meydl tut mir mesukn vey. Doyle, mayne dolye. Der veytik zitst baym shraybtish Un shraybt a langen briv, Di trer in sayne oygn Iz emesdik un tif. Doyle, mayne dolye. Iber di khurves fun poyln Flatert a foygl um, A groyser shive-foygl Er tsitert mit di fligl frum. Doyle, mayne dolye. Der groyser shive-foygl (Mayn dershlogn gemit,) Er trogt oyf zayne fligl Dos dozike troyer-lid. Doyle, mayne dolye. Itzik Manger 23. 02. 2024 Stehen, im Schatten des Wundenmals in der Luft. Für-niemand-und-nichts-Stehn. Unerkannt, für dich allein. Mit allem, was darin Raum hat, auch ohne Sprache. Paul Celan 19. 02. 2024 Die Wasseramsel Könnte ich stürzen heller hinab ins fliessende Dunkel um mir ein Wort zu fischen, wie diese Wasseramsel durch Erlenzweige, die ihre Nahrung vom steinigen Grund des Flusses holt. Goldwäscher, Fischer, stellt eure Geräte fort. Der scheue Vogel will seine Arbeit lautlos verrichten. Peter Huchel 13. 02. 2024 HIER, gekrümmt zwischen zwei Nichtsen, sage ich Liebe. Hier, auf dem Zufallskreisel sage ich Liebe. Hier, von den hohlen Himmeln bedrängt, an Halmen des Erdreichs mich haltend, hier, aus dem Seufzer geboren, von Abhang und Abhang gezeugt, sage ich Liebe. Ernst Meister 11. 02. 2024 Unter dem Regen Unter dem Regen Bäume, Weg, Stille, fernes vielfaches Leben. Ohne Bedauern sehe ich, wie meine Spur sich verwischt. Salvador Espriu 09. 02. 2024 Zuversicht In Saloniki weiss ich einen, der mich liest, und in Bad Nauheim, das sind schon zwei. Günter Eich 07. 02. 2024 Tant d’années, et vraiment si maigre savoir, coeur si défaillant? Pas la plus fruste obole dont payer le passeur, s’il approche? - J’ai fait provision d’herbe et d’eau rapide, je me suis gardé léger pour que la barque enfonce moins. Philippe Jaccottet